30. Sonntag i. Jkr. - Lj. B

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Vielleicht geht es Ihnen so, dass Sie, wenn Sie die verschiedenen Heilungserzählungen der Bibel hören, sich denken: "Nette Geschichte, aber was habe ich davon. Ich bin erstens nicht blind, und zweitens hat Jesus nicht mich geheilt."
Das heutige Evangelium von der Heilung des blinden Bartimäus kann aber ein Paradebeispiel sein, wie solche Erzählungen uns alle angehen.


Das Markusevangelium, und ihm folgend auch Matthäus und Lukas, beschreibt das öffentliche Wirken Jesu anhand des Weges von Galiläa nach Jerusalem. Sein Wirken gipfelt in Tod und Auferstehung. Heute haben wir gleichsam im Evangelium das letzte Mal mit ihm Station gemacht. Er ist in Jericho angekommen, wo sich viele Menschen sammeln, die auf der Wallfahrt nach Jerusalem sind, um dieses letzte gefährliche Wegstück gemeinsam zu gehen.
So kommt es, dass Jesus, wie es heißt, "mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho verließ". Es könnte also durchaus den Anschein haben, dass Jesus eine große Gefolgschaft um sich geschart hat, mit der er dann feierlich als Messias in Jerusalem einziehen würde.
Und jetzt beginnt die Geschichte des blinden Bartimäus. In einem ersten Durchgang durch den Text können wir drei Stationen feststellen:
- Zuerst der Ruf des Bartimäus: "Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!" Hilf mir!
- Dann das Wunder, dass der Blinde wieder sehen kann.
- Und schließlich schließt sich der Geheilte der Wallfahrt nach Jerusalem an, vielleicht sogar um dort ein Dankopfer für seine Heilung darzubringen.

Hinter dieser Heilungsgeschichte, die für Bartimäus sicherlich eine große Bedeutung gehabt hat, können wir aber noch eine tiefere Bedeutungsebene entdecken, die wahrscheinlich uns alle betrifft:

- Beginnen wir wieder mit dem Ruf des Bartimäus: "Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!" Er nennt Jesus den Sohn Davids, drückt damit also seinen Glauben an ihn als den verheißenen Messias aus. Und in der Bitte "Erbarme dich meiner" - im Griechischen Originaltext "ἐλέησόν με" - können wir vielleicht auch den Huldigungsruf an den römischen Kaiser "Kyrie eleison" mithören. "Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir", ist auf jeden Fall also eine hoheitliche Anrede für Jesus, ein Ausdruck des Glaubens an ihn.

- Und nun zur eigentlichen Heilung. "Was soll ich dir tun?", spricht Jesus. "ἵνα ἀναβλέψω" - Diese Antwort des Blinden kann man übersetzen mit: "dass ich wieder sehend werde". Aufgrund der Umstände liegt diese Antwort auch nahe. Das griechische Wort ναβλέπω bedeutet wörtlich übersetzt aber auch einfach "aufblicken". Die Leser des Markusevangeliums konnten also auch diese Bedeutung mithören: "Was soll ich dir tun? - Ich möchte aufblicken."
Liebe Brüder und Schwestern! In der Tradition des hl. Augustinus ist oft die Rede gewesen vom homo incurvatus in se, vom in sich verkrümmten Menschen, als Inbegriff des Sünders. Ein Mensch, der - wie ein Fragezeichen - in sich selbst gekrümmt ist und nur noch sich selber sieht, der nicht aufblicken kann zu seinen Mitmenschen, der nicht aufblicken kann zu Gott.
"Ich möchte wieder sehen können", "ich möchte aufblicken können" - das kann auch bedeuten: Ich möchte aus der Verkrümmung in mich selbst, aus dieser Blindheit anderen gegenüber befreit werden.
Eine andere Stelle, an der dieses Wort ναβλέπω im Markusevangelium vorkommt, ist der Gang der Frauen zum Grab Jesu. Auf diesem Weg sind sie auch in gewisser Weise homines incurvati in se, in sich gekrümmte Menschen, die vor lauter Verzweiflung, Enttäuschung, Selbstmitleid und Versunkensein in Gedanken blind geworden sind. So überlegen sie, wie sie wohl den Stein vom Grab wegwälzen könnten. Und dann heißt es im Text: Als sie aufblickten (ἀναβλέψασαι), merkten sie, dass der Stein weggewälzt war. Im übertragenen Sinn: Als sie aufblickten, als sie sich aus ihrer Verkrümmung in sich selbst befreiten und auf Gott hin ausrichteten, da war der Stein, das vermeintliche Hindernis auf dem Weg hin zu Jesus, weggenommen.

- Aber zurück zu Bartimäus. Auch er möchte aufblicken, aufblicken zu Jesus, wie er es in seinem Ruf bereits getan hat. In diesem Sinne darf er hören: "Dein Glaube hat dir geholfen." Und es wird noch weiterausgeführt: "Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg."
Ein letztes Mal lohnt es sich hier, nochmal auf den griechischen Urtext des Evangeliums zu schauen. Die beiden Verben "er konnte wieder sehen / aufblicken" und "er folgte Jesus" stehen nämlich nicht in der gewöhnlichen Erzählzeit, dem sogenannten Aorist. Es sind keine Begebenheiten, die sich einfach in der Vergangenheit abgespielt haben und heute erzählt werden. Der griechische Text verwendet hier eine andere Zeitform, den Imperfekt. Damit wird ausgedrückt, dass die Handlung keine abgeschlossene, einmalige Sache ist. Zu Jesus aufblicken, Jesus folgen - das wird immer "imperfekt" - unabgeschlossen bleiben; das muss immer neu eingelernt werden und vervollkommnet werden.

Liebe Brüder und Schwestern!
Die Erzählung vom blinden Bartimäus ist eine Heilungsgeschichte, die aber eine grundlegende Thematik für jeden von uns anspricht.
Es geht um echten Glauben, echtes Vertrauen und echte Nachfolge Jesu im Gegensatz zu einem einfachen blinden Mitschwimmen mit der Menge.
So stellt der Text an uns die Frage: "Bin ich nicht selber manchmal blind?"
Und er zeigt uns auch die nötige Therapie auf, um von dieser Blindheit geheilt zu werden: Nicht in sich selbst verkrümmt bleiben, sondern aufblicken - zu Jesus, der uns vorangeht; aufblicken - zu Gott und zu unseren Mitmenschen.

Wenn ich hier in Maria Anzbach, sozusagen zu Füßen der Mutter der Barmherzigkeit, über dieses Thema spreche, möchte ich nicht schließen, ohne mich auch an sie zu wenden, gleichsam zu ihr aufzublicken mit der entsprechenden Zeile des Wallfahrerliedes "Wir ziehen zur Mutter der Gnade", das hier bereits so oft von Menschen gesungen wurde, die sich auf den Weg gemacht haben, auf den Weg auch heraus aus ihrer Verschlossenheit in sich selbst:
"O führe, Maria, die Blinden, damit sie im Himmel dich (und deinen Sohn) finden."
Amen.


Zu den liturgischen Texten

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