6. Sonntag i. Jkr. - Lj. A

Liebe Brüder und Schwestern!

Wir befinden uns in der fortlaufenden Lesung des Matthäusevangeliums mitten in der berühmten Bergpredigt Jesu.
Jesus tritt auf als der neue Mose, der neue Gesetzgeber des Volkes, der ihm Gottes Wort überbringt - ja, im Glauben dürfen wir sagen: Er geht sogar darüber hinaus, denn er selbst ist dieses "Wort", ist in Person die Mitteilung Gottes an diese Welt.
Welch große Bedeutung die Gabe des Gesetzes für das gläubige Volk Israel gehabt hat, können wir erahnen, wenn wir die Worte der ersten Lesung betrachten: "Gott gab den Menschen seine Gebote und Vorschriften ... Seine Augen sind auf denen, die ihn fürchten".
Dass Gott dem Volk sein Gesetz gibt, dass er selbst zu seinem Volk spricht, drückt eine unerhörte Nähe Gottes aus - und im Glauben dürfen wir sagen: In Jesus, dem neuen Gesetzgeber, dem "Gesetz in Person" hat diese unerhörte Nähe Gottes noch eine Steigerung erfahren, in ihm kommt uns Gott als Mensch nahe.

Wahrscheinlich in keiner anderen Schilderung der Evangelien kommt diese Stellung Jesu als neuer Gesetzgeber so sehr zum Ausdruck wie in der Bergpredigt.
Oft ist die Bergpredigt künstlerisch dargestellt worden - immer wieder mit der Betonung der göttlichen Autorität Jesu, mit der er lehrt; so auch im sogenannten Evangeliar Ottos III. um das Jahr 1000 n. Chr., das heute in der bayrischen Staatsbibliothek aufbewahrt wird. Darin findet sich eine zweigeteilte Darstellung der Bergpredigt, die ich heute etwas betrachten möchte.

Die obere Bildhälfte deutet eine mit Blumen bewachsene Landschaft und damit die Kulisse der Bergpredigt an. In der Mitte erhebt sich aus dieser Landschaft ein Podest mit einem Thron, auf dem Jesus, der göttliche Lehrer Platz genommen hat. Das Sitzen ist die alte Form des autoritativen Lehrens und Matthäus erwähnt in diesem Sinn eigens am Beginn der Bergpredigt, dass Jesus sich setzte. Auch die purpurfarbene Schärpe, die Jesus trägt, sowie das Buch (vielleicht das Buch des Gesetzes) auf seinem Schoß und der goldene Hintergrund der Szene deuten auf seine göttliche Autorität hin.
Zu seiner Rechten und Linken haben sich die zwölf Apostel eingefunden, die Matthäus zu Beginn der Bergpredigt auch eigens erwähnt. Sie sind die ersten, die die Belehrung Jesu direkt aus seinem Mund empfangen sollen.
Dass sich diese Unterweisung der Jünger aber nicht nur auf die historische Begebenheit der Bergpredigt beschränkt, sondern sich vielmehr direkt aus der Begegnung mit ihm, dem menschgewordenen Wort Gottes, speist, wird angedeutet durch die anachronistische Zusammensetzung der zwölf Personen. Während sie auf der einen Seite von Petrus angeführt werden, der sicher bei der Bergpredigt dabei gewesen ist, dürfte auf der anderen Seite Paulus dargestellt sein, der ja erst nach der Auferstehung Jesu von ihm zum Apostel berufen worden ist. Die Apostel sind beauftragt und bevollmächtigt, Jesu Lehre weiter in die Welt zu tragen, nicht einfach, weil sie bei der Bergpredigt oder seinen anderen Reden rechts und links von ihm gestanden sind, sondern weil sie ihm persönlich begegnet sind - und sei es wie im Fall von Paulus vor Damaskus dem auferstandenen Herrn.
Dass die Apostel wie Jesus mit nackten Füßen dargestellt sind, könnte ein Hinweis auf die Leichtigkeit und Freimütigkeit sein, mit der sie in die Welt gesandt sind, um die Botschaft Jesu zu verbreiten.

Betrachten wir nun die untere Bildhälfte.
Hier sehen wir zunächst wieder eine ähnliche Kulisse: Eine Hügellandschaft mit angedeuteten Blumen. Die Personen, die dargestellt sind, stehen wohl für die Zuhörer der Bergpredigt - entweder die direkten Zuhörer, von denen Matthäus berichtet, oder auch jene, die zwar nicht unmittelbar dabei waren, aber durch das Wort der ausgesandten Apostel an der Verkündigung Jesu teilhaben; wir dürfen uns also durchaus auch selbst hier einreihen. Betrachtet man die Personen genauer, so erkennt man die unterschiedlichsten Lebensalter und Stände, Männer und Frauen - alle sind Adressaten der Botschaft Jesu. Gemeinsam blicken sie zu Jesus bzw. zum Himmel auf und dieser gemeinsame Blick hat offenbar auch Auswirkungen auf ihr Verhältnis zueinander. Sie sind eng aneinander gerückt, teilweise umarmen sie sich oder reichen sich die Hände. - Die Botschaft der Bergpredigt zeigt ihre Wirkung. In Jesus kommt Gott uns nahe; und wo wir Gott nahe kommen, da rücken wir auch automatisch untereinander näher zusammen: "Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst", wenn du Gott nahe kommen willst, "und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, ... geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder", sagt Jesus, "schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner".
Auffallend ist, dass Jesus selbst in der unteren Bildhälfte nicht mehr dargestellt ist. Und das entspricht ja auch unserer heutigen Realität. Wir sehen Jesus nicht so von Angesicht zu Angesicht, wie es die Apostel getan haben (wobei ja wie gesagt auch im Kreis der Apostel bereits mit Paulus jemand dargestellt ist, der Jesus zumindest in seinem irdischen Leben nicht persönlich begegnet ist). Und trotzdem ist er da, ist das Geschenk der Nähe Gottes, das er gebracht hat, etwas Bleibendes. Auch der untere Bildbereich ist mit dem göttlichen Gold hinterlegt.
Und an der Stelle, in der im oberen Bildbereich Jesus zu sehen ist, ist unten ein Baum mit drei Blättern dargestellt. Eine ähnliche Darstellung eines Baumes findet sich etwas später in der sogenannten "Bamberger Apokalypse", einem Geschenk von Kaiser Heinrich II. und seiner Gemahlin Kunigunde an das Bamberger Kollegiatsstift St. Stephan. Dort steht dieser Baum für den Lebensbaum, für den Baum des Paradieses, zu dem der Mensch durch den Sündenfall den Zutritt verloren hat, zu dem Christus den Zugang aber wieder geöffnet hat. Damit ist dieser Baum an der Stelle Jesu eben auch ein Zeichen der Nähe Gottes, der uns in Jesus sein Leben schenkt.

Liebe Brüder und Schwestern!
Die Darstellung der Bergpredigt im Evangeliar Ottos III. ist eine Einladung an uns, mit den Weisungen Jesu in der Bergpredigt ernst zu machen, ihm und einander so näher zu kommen; und sie stellt uns in Aussicht, was uns erwartet, wenn wir das Programm der Bergpredigt umsetzen: der Baum des Lebens, ein wahrhaft erfülltes Leben in der Nähe Gottes. Nicht zuletzt sind auch die stilisierten Blumen in der Darstellung nicht einfach Dekorationselemente, sondern wollen uns etwas von der Freude erahnen lassen, die uns in der Nähe Jesu, in der Nähe Gottes, in der Nähe untereinander erwartet.

(Bildbetrachtung nach: Wolfgang VOGL, Meisterwerke der christlichen Kunst zu den Schriftlesungen der Sonntage und Hochfeste Lesejahr A, Regensburg 2016 (2. Auflage), 253-257)

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