Allerseelen


Liebe Brüder und Schwestern!

"Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird",

dieses fälschlicherweise dem Philosophen Immanuel Kant zugeschriebene Zitat findet sich hin und wieder auf Traueranzeigen.
Der Gedanke, dass unsere Verstorbenen in unserer Erinnerung weiterleben, mag für viele tröstlich erscheinen. Wir haben ja tatsächlich viele Erinnerungen an unsere Toten, verbinden verschiedenste Erfahrungen mit dem Gedächtnis an sie. Und wenn wir uns an liebe Menschen erinnern, die gestorben sind, kann es uns manchmal wirklich so vorkommen, als säßen sie in diesem Moment neben uns.
Aber ist das wirklich alles?

Und wenn es wirklich alles ist: Was ist dann, wenn die Erinnerung schwindet? Was ist, wenn ich einmal sterbe und sich niemand mehr an meine Urgroßeltern erinnert? Sind sie dann mit mir und meinen Erinnerungen auch endgültig gestorben?
Ein anderer Trauerspruch, der manchmal zu lesen ist, thematisiert das sogar - wahrscheinlich unbewusst:
"Solange wir leben, lebst auch du, in unseren Gedanken, in unserer Erinnerung, in unseren Herzen."
Wenn das Weiterleben unserer Toten tatsächlich an unsere Erinnerung geknüpft ist, dann ist das eine sehr schwache Hoffnung. Denn damit haben die "Gottlosen" schon Recht, was sie in der ersten Lesung sagen:
"Unser Name wird mit der Zeit vergessen, niemand erinnert sich an unsere Werke."
Wir brauchen nur denken an die ägyptischen Pyramiden oder andere imposante Grabmäler, die genau das zum Ziel hatten: die Erinnerung an eine Person lebendig halten. Ist das wirklich gelungen? Freilich kennen wir von einigen, die solche Mäler errichten ließen, den Namen, wissen von diesen Personen. Aber sind sie dadurch wirklich in Erinnerung geblieben? Und was ist mit den vielen "einfachen" Leuten, die sich solche Denkmäler schlicht nicht leisten können? Sind sie für immer verloren, weil für immer vergessen?

Und wir können noch weiterfragen: Was ist mit jenen Facetten im Leben unserer lieben Verstorbenen, von denen wir nichts wissen, an die es keine Erinnerung gibt, die aber trotzdem zu ihrer einzigartigen Persönlichkeit gehören? Wenn nur die Erinnerung an unsere Verstorbenen weiterlebt - nämlich eine Erinnerung, die immer nur ein Ausschnitt der ganzen Person sein kann - sind es dann wirklich sie, die weiterleben?

"Tot ist nur, wer vergessen wird" - So tröstlich dieser Gedanke auf den ersten Blick erscheinen mag, so hoffnungslos lässt er uns aber zurück, wenn wir genauer darüber nachdenken.
Und trotzdem dürfen wir aus christlicher Sicht sagen: Dieser Spruch drückt etwas Wahres aus.

Es ist richtig, dass wir nicht die Erinnerung an jeden Menschen am Leben erhalten können, weil wir gar nicht Erinnerung an jeden Menschen haben und weil mit uns auch unsere Erinnerungen einmal vergehen werden. - Aber wir glauben, dass es jemand gibt, der bis in Ewigkeit jeden einzelnen im Gedächtnis hat.
Es ist richtig, dass wir nie die Erinnerung an die ganze Person eines Menschen am Leben erhalten können, weil wir immer nur Ausschnitte einer Person kennen und uns daran erinnern. - Aber wir glauben, dass es jemand gibt, der jeden einzelnen in seiner Ganzheit kennt; ja, der jeden Menschen noch viel besser kennt als dieser Mensch sich selbst.

"Tot ist nur, wer vergessen wird" - Als Christen dürfen wir sagen: Ja, und von Gott ist niemand vergessen!
Ob wir leben oder gestorben sind, in ihm sind wir geborgen. "Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn", so sagt es der hl. Paulus.

Liebe Brüder und Schwestern!
Der auferstandene Herr nennt Maria Magdalena bei ihrem Namen und nimmt ihr damit die Traurigkeit. Freilich will das zunächst sagen: Sie erkennt Jesus, sie weiß nun, dass er lebt. Aber es kann uns eben auch sagen: Jesus kennt uns beim Namen, er kennt uns besser als wir uns selbst. Und auch der Tod ist für ihn kein Hindernis, auch über die Grenze des Todes hinweg spricht er uns an, sind wir in ihm geborgen. Es liegt an uns, auf seine Stimme zu hören wie Maria Magdalena und uns hinzuwenden zu ihm.

Am heutigen Allerseelentag denken wir an unsere Verstorbenen. Und wir dürfen im Glauben wissen: Auch Gott denkt an sie und wird ewig an sie denken. Und weil Gott an sie denkt, sind sie für ihn nicht tot.
Wir dürfen also für unsere lieben Verstorbenen hoffen und für sie beten, dass sie die Stimme Gottes hören, der sie kennt und anruft, der sie zu sich ruft um bei ihm geborgen zu sein.

"Tot ist nur, wer vergessen wird" - Im Vertrauen, dass Gott unsere Lieben nicht vergisst, wollen nun auch wir uns die Namen jener in Erinnerung rufen, die im vergangenen Jahr aus unserer Pfarre verstorben sind.
Wir wollen uns aber nicht nur liebevoll an sie erinnern, sondern auch für sie beten, sie im Gebet vor Gott hintragen.

Zu den liturgischen Texten


Folgende Schriftlesungen wurden gewählt:
Lesung aus dem Buch der Weisheit (2,1-5)
Lesung aus dem Römerbrief (14,7-9)
Aus dem Johannesevangelium (20,11-17)

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