11. Sonntag i. Jkr. - Lj. B

Liebe Brüder und Schwestern!

Mancher Botaniker wird beim heutigen Evangelium vielleicht aufschreien und Einspruch erheben. Das Senfkorn soll wirklich das kleinste aller Samenkörner sein? Und die Senfstaude ist größer als alle anderen Gewächse?

Doch, liebe Brüder und Schwestern, Jesus geht es nicht um eine Beschreibung der Botanik der Senfpflanze. Er arbeitet wohl mit Übertreibungen, um uns noch deutlicher zu sagen, worum es ihm eigentlich geht.

Die Liturgie der Kirche gibt uns als Lesebrille für das Gleichnis vom Senfkorn heute auch die erste Lesung aus dem Buch Ezechiel an die Hand. Der Prophet beschreibt da in einer Vision, wie aus einer hohen Zeder ein Zweig abgebrochen, auf einem hohen Berg eingepflanzt und selbst zu einem großen Baum wird. Das mag für sich genommen etwas unverständlich sein. Denn dieser Vision, die wir heute gehört haben, geht in der Bibel eine andere Vision voraus, die dem Volk Israel sein Schicksal aufzeigen und das Strafgericht androhen soll, das ihm wegen seines Abfalls von Gott bevorsteht: Ein Adler kommt und reißt den obersten Wipfel einer hohen Zeder ab. Er bringt ihn in ein fernes Land und pflanzt ihn dort ein.

Der Baum ist in der biblischen und außerbiblischen Literatur oft ein Symbol für das Königtum. So steht dieser Baum in der Vision des Ezechiel wohl für das davidische Königtum. Der vom Adler ausgerissene und weggebrachte Wipfel für König Jojachin, der vom babylonischen Großkönig Nebukadnezzar gemeinsam mit dem Volk deportiert und ins Exil nach Babylon gebracht wird. Es ist also die Katastrophe des babylonischen Exils, der drohende Verlust der Identität des Volkes, der von Ezechiel hier angesprochen wird. Sämtliche Versuche, an der Situation etwas zu ändern, scheitern und verschlimmern das Schicksal des Volkes sogar. In einem anderen Bild von einem Weinstock spricht Ezechiel von König Zidkija, der versucht hat, von Ägypten her Hilfe zu bekommen, der zur Strafe dann aber von Nebukadnezzar endgültig ausgerissen worden ist. Das Königtum ist definitiv am Ende; das Volk vor dem Abgrund; jede Hoffnung geschwunden.

Und an diesem Punkt setzt die Lesung des heutigen Sonntags ein. Sie beginnt mit einem betonten "Ich selbst", das Gott spricht. Ja, die Restaurationsversuche des Volkes mögen gescheitert sein, doch nun tritt Gott selbst auf den Plan. - Vielleicht auch eine Mahnung an uns, bei allen kirchlichen Erneuerungs- und Reformprozessen, die gerade am Laufen sind, sei es in unserer eigenen Diözese, in unserem Nachbarland Deutschland oder auch auf weltkirchlicher Ebene; dass wir bei all diesen Erneuerungs- und Reformprozessen Gott selbst den eigentlichen Akteur sein lassen; dass wir ihm die Initiative zugestehen; dass wir unsere eigenen Ideen gegebenenfalls auch hintanstellen und ihn wirken lassen.

In der Vision des Ezechiel ist es jedenfalls Gott selbst, der nun einen Zweig aus der hohen Zeder bricht - aus jener Zeder, die für das Königtum Davids gestanden hat und inzwischen wohl vollständig verdorrt und tot erscheint. Und er pflanzt diesen Zweig auf einem hohen Berg ein - gedacht ist wohl an den Zionsberg in Jerusalem, also in der alten Heimat des Volkes. Und das Wunder, das über rein botanische Vorgänge hinausgeht, tritt ein: der tote Zweig treibt aus, trägt Früchte und bietet den Vögeln des Himmels Schatten und Heimat. So will das Bild der heutigen Lesung eben sagen: Gegen alle Aussichtslosigkeit, gegen allen Misserfolg des Volkes, ist es Gott selbst, der das alte Königtum zu neuer Pracht bringt, ja, der das Volk gestärkt aus dem Exil und der aussichtslosen Existenzkrise hervortreten lassen wird.

Liebe Brüder und Schwestern!

Wenn Jesus im Evangelium in einer sehr ähnlichen Sprache biblischer Botanik vom Reich Gottes spricht, dann kann uns das sagen: Auch das Reich Gottes, sagen wir die Kirche, ist ein Werk Gottes, der aus Unscheinbarem, ja Abgestorbenem Großes machen kann. Und wenn aus dem kleinen Senfkorn ein Gewächs entsteht, das - entgegen jeder Botanik - größer als alle Bäume wird, dann heißt das: Gott wirkt immer noch mehr als wir uns vorstellen können.

Natürlich wollen uns die Texte nicht aus der Pflicht nehmen, das Unsrige zum Aufbau des Reiches Gottes beizutragen - zumindest das Senfkorn im Evangelium muss auch gesät werden. Aber wenn wir alles tun, was uns möglich ist, dürfen wir vertrauen, dass Gott selbst unendlich mehr daraus entstehen lassen kann.

"Gott, du unsere Hoffnung und unsere Kraft, ohne dich vermögen wir nichts", hat es im Tagesgebet geheißen. Und wir dürfen auch die Bitte aus diesem Gebet wiederholen und weiterspinnen: "Steh uns mit deiner Gnade bei, damit wir denken, reden und tun was dir gefällt" - und so eben unerwartete, unverdiente, übergroße Frucht bringen.

Amen.

Zu den liturgischen Texten

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