4. Adventsonntag - Lesejahr C

"... uns der Gnaden Fülle lässt sehn ..."

Vor 200 Jahren am Heiligen Abend wurde das Lied "Stille Nacht" zum ersten Mal gesungen. In der Vorbereitung auf dieses Jubiläum versuche ich, mich an den Adventsonntagen jeweils auf den Text einer Strophe (ab dem 2. Adventsonntag einer der unbekannteren Strophen) zu beziehen.

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!
Nur noch wenige Tage dauert es, bis wir wieder das Weihnachtsfest feiern können; bis jene "stille, heilige Nacht" anbricht, von der das bekannte Weihnachtslied singt, das vor 200 Jahren das erste Mal erklungen ist.
Auch an diesem 4. Adventsonntag wollen wir wieder eine Strophe dieses Liedes betrachten, die uns wahrscheinlich etwas unbekannter ist:
"Stille Nacht, heilige Nacht! Die der Welt Heil gebracht aus des Himmels goldenen Höh'n, uns der Gnaden Fülle lässt sehn: Jesus, in Menschengestalt."

In der Liturgie der Kirche ist der Advent in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil des Advent will uns hinweisen auf die Wiederkunft Christi am Ende der Zeit, uns wachrütteln und für sein Gericht bereiten.
Der zweite Teil, beginnend eine Woche vor Weihnachten mit dem 17. Dezember, erinnert dann an das erste Kommen Christi an Weihnachten, will uns zeigen, wer es ist, der am Ende der Zeiten wiederkommen wird.
Und in diesem zweiten Teil des Advent, in dem wir nun stehen, liest die Kirche mit Vorliebe aus dem Lukasevangelium sozusagen die unmittelbaren Vorbereitungen für das Kommen Christi, aus denen auch wir lernen sollen, was es heißt, uns für sein Kommen zu bereiten. So berichtet uns das heutige Evangelium von der schwangeren Maria, die sich auf den Weg zu ihrer Verwandten Elisabeth macht.

Der Engel Gabriel hatte ihr bei der Verkündigung mitgeteilt, dass auch Elisabeth schwanger ist. Und so macht sich Maria auf den Weg. Einerseits will sie ihrer bereits älteren Verwandten helfen, sich auf die Geburt vorzubereiten; und anderseits will sie ihr auch die Freude mitteilen, dass sie selbst ein Kind - und nicht irgendein Kind, sondern den verheißenen Messias - unter ihrem Herzen trägt.
Es ist der erste Weg, den Jesus als Mensch auf dieser Welt - im Schoß seiner Mutter - gegangen ist. Die Rede vom "Kommen Christi" gewinnt so eine ganz plastische und greifbare Realität. Alle Weichen sind gestellt: Jesus kommt als Mensch zur Welt - "Jesus in Menschengestalt", wie es im Lied heißt.

Liebe Brüder und Schwestern!
Das Kind Elisabeths, Johannes der Täufer, hüpft vor Freude in ihrem Schoß, als es das Kommen Jesu erahnt. Die Kirche hat diesen Hinweis des Evangelisten Lukas immer so ausgelegt, dass das Kommen Jesu, der noch nicht einmal geboren ist, den ebenfalls noch ungeborenen Johannes bereits mit der Gnade Gottes beschenkt.
Auch ins unserem Lied wird das Kommen Jesu "in Menschengestalt" als "der Gnaden Fülle" bezeichnet.

"Gnade" - Was bedeutet dieses Wort, das wir in der Kirche so oft hören, das wir aber sonst eher selten gebrauchen?
Wir können in einem ersten Schritt das Wort "Gnade" durch das Wort "Geschenk", "Geschenk Gottes" ersetzen. Weihnachten ist das Fest der Geschenke, weil eben Gott uns das größte Geschenk macht, weil er uns "der Gnaden Fülle lässt sehn: Jesus in Menschengestalt". Ja, das größte Geschenk Gottes, die größte Gnade, die er uns zuteil werden lässt, der Gnaden Fülle ist er selbst, der sich in Jesus uns schenkt.
Die klassische Gnadenlehre spricht in diesem Zusammenhang von der gratia increata, der ungeschaffenen Gnade, die Gott selbst ist. Wenn Gott gibt, dann gibt er reichlich. Dann gibt er nicht nur geschaffene Gnaden, gratia creata, sondern gibt er im Letzten sich selbst.

Am heutigen Sonntag steht Maria im Vordergrund, jene Frau, die wir mit den Worten des Engels Gabriel im "Gegrüßet seist du Maria" als "voll der Gnade" anreden, als ganz von Gott erfüllt, der sie in einzigartiger Weise beschenkt hat: Bereits vom ersten Augenblick ihres Daseins an, war sie von seiner Gnade erfüllt und frei von der Erbschuld, das heißt ganz ohne Trennung von Gott (vor kurzem, am 8. Dezember, haben wir ja genau das gefeiert); und schließlich hat er sich ganz real an sie hingeschenkt, wollte er aus ihr in Jesus Mensch werden. Gott schenkt Maria seine Gnade, damit sie diese Gnade weiterschenken kann. Das sehen wir auch am Besuch Mariens bei Elisabeth: Wer mit Gottes Gnade beschenkt wird, der kann nicht anders als sie weiterzugeben.

Liebe Brüder und Schwestern!
Was hat das mit uns zu tun?
Gott kommt zur Welt - oft durch andere Menschen, wie wir in Maria auf einzigartige Weise sehen können. Auch wir sind dazu berufen, die Gnade, die wir von Gott empfangen haben, weiterzugeben. Gratia gratis data heißt das in der theologischen Fachsprache: Die Gnade, die dazu gegeben wird, um anderen Menschen zu dienen.
Kurz gesagt: Wir sollen Mitarbeiter der Gnade Gottes sein. Was er uns schenkt, seien es unsere Talente und Fähigkeiten, unsere Beziehungen, auch unseren materiellen Wohlstand - all diese Geschenke sind nicht nur für uns bestimmt. Die Gnade Gottes ist dazu da, um verschenkt zu werden. 

Nehmen wir uns an Maria ein Vorbild und tragen wir diese Gnade Gottes in unsere Welt hinaus; bringen wir unserer Welt die größte Gnade, die Gott uns schenkt; tragen wir Jesus in unsere Welt!
Dann können wir wirklich Weihnachten, das große Fest der Geschenke feiern, an dem uns Gott "der Gnaden Fülle lässt sehn: Jesus in Menschengestalt."

Zu den liturgischen Texten
Zum Lied "Stille Nacht"

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