Weihnachten - Am Tag

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Weihnachten ist voll von Bräuchen und Traditionen, zu denen gewiss auch unsere Weihnachtslieder gehören.
Das wahrscheinlich bekannteste und für die meisten mit viel Emotionen verbundene Weihnachtslied unserer Kultur ist "Stille Nacht, heilige Nacht", dieses Lied, das in der Weihnachtsnacht vor genau 200 Jahren das erste Mal gesungen wurde.
Aus diesem Anlass habe ich an den vergangenen Adventsonntagen in Eichgraben einzelne Strophen dieses Liedes näher betrachtet. Heute möchte ich auch hier in Maria Anzbach über die im Original sechs Strophen dieses Liedes sprechen - und ich lade Sie ein, dass wir nicht nur theoretisch darüber reden, sondern auch wirklich mitsingen. Beginnen wir mit der ersten Strophe:


"Stille Nacht, heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht nur das traute, heilige Paar. Holder Knab im lockigen Haar, schlafe in himmlischer Ruh!"
Auf den ersten Blick scheint diese Strophe etwas romantisch das Geschehen im Stall von Betlehem zu schildern, das uns gestern in der Christmette vorgestellt wurde. Klein und unscheinbar ist dieses Geschehen, wie überhaupt die großen bedeutungsvollen Ereignisse im Leben Jesu im Verborgenen, im Dunkel geschehen: seine Geburt, aber auch seine Auferstehung in der Osternacht; und auch bei seinem Tod am Kreuz verfinstert sich die Erde.
Man muss genau hinschauen, um Christus nicht zu übersehen. Wenn "alles schläft", dann sind wir Christen aufgefordert, wie Maria und Josef, zu wachen. Wo vielleicht alle wegschauen, da müssen wir hinschauen und helfen, wenn jemand unserer Hilfe bedarf.
Die erste Strophe des Liedes birgt aber noch eine weitere Anspielung, die uns zeigen will, wer Jesus Christus ist. Der "holde Knab im lockigen Haar" ist nicht nur eine romantische Träumerei. Wahrscheinlich wird hier auf König David angespielt, von dem es im Alten Testament heißt, dass er schönes Haar hatte. Jesus ist der neue David, der verheißene Retter, der Messias des Volkes Israel.

Aber Jesus geht über die Hoffnung Israels noch weit hinaus, wie uns die zweite Strophe zeigen will:
"Stille Nacht, heilige Nacht! Gottes Sohn, o wie lacht Lieb aus deinem göttlichen Mund, da uns schlägt die rettende Stund, Jesus, in deiner Geburt!"
Ja, Jesus ist nicht nur der Messias, der von Gott gesandte Retter des Volkes, sondern es ist Gott selbst, der in unsere Welt eintritt. Jesus ist Gottes Sohn, oder - wie es im heutigen Evangelium geheißen hat - er ist das ewige Wort Gottes, das Fleisch geworden ist und unter uns wohnen will. Oder, in noch anderen Worten, die wir in der zweiten Lesung gehört haben: "Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens."
Die Person Jesu ist ein großes Geheimnis, das wir wohl nie ganz durchdringen werden. Wenn die Kinder in der Schule sagen: "Ich versteh das nicht. Ist Jesus jetzt Gott oder der Sohn Gottes? Ist er Gott oder Mensch?", dann tröste ich sie gerne damit, dass schon viele gescheite Köpfe darum gestritten haben, wie man Jesus wirklich verstehen kann. Aber eines können erahnen: Wenn in Jesus Gottheit und Menschheit unvermischt und ungetrennt verbunden sind, dann "schlägt uns die rettende Stund", wie es im Lied heißt, dann können auch wir Gott nahekommen. "Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden", hat es im Evangelium geheißen.

Was die Geburt Jesu für die Welt bedeutet, das kündet uns die dritte Strophe:
"Stille Nacht, heilige Nacht! Die der Welt Heil gebracht aus des Himmels goldenen Höh'n, uns der Gnaden Fülle lässt sehn: Jesus, in Menschengestalt."
"Gnade" meint ein unverdientes Geschenk Gottes. Und die Fülle der Gnade, das größte Geschenk wird im Lied damit ausgedrückt, dass Jesus in Menschengestalt erschienen ist. 
Dass Weihnachten das Fest der Geschenke ist, lässt uns erahnen, dass Gott selbst uns in der Geburt Christi das größte Geschenk macht. Er schenkt uns nicht nur irgendwelche Kostbarkeiten, sondern er will sich selbst schenken.
In Jesus gibt Gott sich ganz. Nichts von sich selbst hält er zurück. Das ganze Leben Jesu ist ein einziges Für - bis hin zu seinem Tod. "Kreuz und Krippe sind aus dem gleichen Holz geschnitzt", sagt eine alte Weisheit.
Und schließlich können wir den Ausruf "Jesus in Menschengestalt" auch umdrehen: Jesus zeigt uns, was es wirklich heißt, Mensch zu sein. Christus macht dem Mensch den Menschen kund, so hat es das 2. Vatikanische Konzil formuliert. Zum echten, gelungenen Menschsein gehört die Hingabe - an Gott und den Mitmensch.

Betrachten wir nun die vierte Strophe:
"Stille Nacht, heilige Nacht! Wo sich heut alle Macht väterlicher Liebe ergoss und als Bruder huldvoll umschloss: Jesus, die Völker der Welt."
Haben uns die bisherigen Strophen gezeigt, wie sich in Jesus Christus die Hoffnung Israels erfüllt und sogar noch übertroffen wird, so liegt die vierte Strophe genau auf derselben Linie:
Jesus ist nicht nur der Retter und Erlöser Israels, sondern er umschließt alle Völker der Welt.
Das Christentum ist keine Religion einer bestimmten Volksgruppe - das ist in der damaligen Zeit durchaus ein Novum gewesen - sondern alle Menschen sind angesprochen, sind von ihm umschlossen, sind in die väterliche Liebe Gottes hineingenommen.
Eine kleine Ahnung davon hat es auch schon im Alten Testament gegeben, wenn es im Buch Jesaja heißt, wie wir es in der ersten Lesung gehört haben: "Alle Enden der Erde sehen das Heil unseres Gottes." Es ist die Hoffnung, dass eines Tages nicht nur das Volk Israel seinen Gott JHWH als den einen und einzigen Gott anerkennen und anbeten wird, sondern alle Völker der Welt.
In Jesus Christus beginnt auch diese Hoffnung, sich zu erfüllen.
Weihnachten möchte also auch unseren Blick weiten. Denn wenn alle Völker der Welt von der Liebe Gottes umschlossen sind, dann dürfen auch wir niemanden von unserer Liebe ausschließen.

Der Anspruch, den Weihnachten an uns heranträgt, ist nicht etwas, das wir gleich in einem Augenblick erfüllen können. Das will uns auch die fünfte Strophe zeigen:
"Stille Nacht, heilige Nacht! Lange schon uns bedacht, als der Herr, vom Grimme befreit, in der Väter urgrauen Zeit aller Welt Schonung verhieß."
"Lange schon uns bedacht" - Das Weihnachtsfest, der Eintritt Gottes in die Welt, hat eine lange Vorgeschichte. Im Lied wird angespielt auf den Bund Gottes mit Noach nach der großen Flut, als Gott eben "aller Welt Schonung verhieß" und versprochen hat, nie wieder alles Leben auf der Erde auszutilgen.
Es ist die Rede von einem Neuanfang. Weihnachten lädt uns ein, auch in unserem persönlichen Leben einen Neuanfang zu setzen. Und das ist, wie gesagt, nicht eine Sache von einem Augenblick oder ein paar Minuten, sondern dauert ein ganzes Leben lang.
Gott hat die Welt lange auf sein Kommen in Jesus Christus vorbereitet. Wir sind aufgerufen, es ihm gleich zu tun; immer neu damit zu beginnen, als Christen zu leben; ihn immer neu in unsere Welt hineinzutragen durch ein Leben der Gottes- und Nächstenliebe.

Singen wir nun die uns allen bekannte sechste Strophe des Liedes:
"Stille Nacht, heilige Nacht! Hirten erst kundgemacht durch der Engel Halleluja tönt es laut von ferne und nah: Jesus, der Retter, ist da!"
Diese Strophe holt uns zurück zur Erzählung von der Geburt Christi. Doch der Blick durch die Strophen des Liedes hat uns vielleicht dem etwas näher gebracht, was es heißt, wenn die Engel singen: "Jesus, der Retter, ist da"
Er ist der Retter, der Messias des Volkes Israel und der Heiland der ganzen Welt, der im Verborgenen kommt und uns auffordert, selbst auf die verborgenen Nöte und Sorgen, aber auch Freuden unserer Mitmenschen hinzuschauen, der uns einlädt, wie er, niemanden auszuschließen, und der uns die Kraft geben möchte, immer neu damit anzufangen.
So kann es wirklich Weihnachten werden, können wir die Nähe des menschgewordenen Gottes, der unter uns wohnen möchte, auch in unserem alltäglichen Leben spüren, kann auch unser Alltag uns immer wieder zurufen: "Jesus, der Retter, ist da!"

Fürbitten
Zu Christus, dem menschgewordenen Sohn Gottes, bringen wir nun vertrauensvoll unsere Bitten:

  • "Alles schläft, einsam wacht ..." - Hilf uns allen, wachsam zu sein; gib uns einen wachen Blick auch für die verborgenen Sorgen und Nöte unserer Mitmenschen.
  • "da uns schlägt die rettende Stund ..." - Hilf unserem Papst Franziskus, den Bischöfen, Priestern und Diakonen und uns allen, die befreiende Botschaft von deiner Menschwerdung glaubwürdig zu verkünden und zu leben.
  • "der Gnaden Fülle: Jesus in Menschengestalt ..." - Hilf uns und allen Menschen, immer mehr Mensch zu werden, wie du es uns vorgelebt hast; hilf uns, das was du uns schenkst, auch weiterzuschenken.
  • "Jesus umschloss die Völker der Welt ..." - Steh allen Menschen bei, die in Kriegsgebieten wohnen; und gib den Mächtigen dieser Welt Gedanken des Friedens; lass die Völker der Erde an diesem Weihnachtsfest näher zusammenrücken.
  • "Lange schon uns bedacht ..." - Hilf uns, nicht den Mut zu verlieren, wenn gute Vorsätze nicht halten, und gib uns immer wieder die Kraft zu einem Neuanfang.
  • "Jesus, der Retter ist da!" - Lass uns alle einmal in Ewigkeit deine Nähe und Liebe spüren und nimm auch unsere Verstorbenen bei dir auf.
Denn du bist das ewige Wort des Vaters, das Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat. Du weißt, was es heißt, als Mensch auf dieser Erde zu leben. Lass uns nicht allein und erhöre unsere Bitten. Dir sei Lob und Ehre jetzt und in Ewigkeit.

Zu den liturgischen Texten
Zum Lied "Stille Nacht"

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