9. Sonntag nach Pfingsten (Messaushilfe, forma extraordinaria)

Liebe Brüder und Schwestern!

"Dominus flevit" - "Der Herr weinte", diesen Namen trägt eine kleine Kirche in Jerusalem auf dem Ölberg, von der aus man die Stadt überblicken kann. Diese Kirche erinnert an die Szene des heutigen Evangeliums: "Als Jesus Sich Jerusalem näherte und die Stadt sah, weinte Er über sie".
Der Herr weint über Jerusalem. Das Schicksal der Stadt ist ihm nicht egal. Er weiß um die nahende Belagerung und ist zuinnerst ergriffen.
Doch der Herr weint auch aus einem anderen Grund über Jerusalem, "weil [sie] die Zeit [ihrer] Heimsuchung nicht erkannt [hat]."

Jerusalem, die heilige Stadt, steht aber in der hl. Schrift nie nur für die Stadt als solche. Sie ist Stellvertreterin des ganzen Volkes. 
Dominus flevit. - Der Herr weinte. - Der Herr weinte um sein Volk, das ihn nicht erkannt hat.

Die christliche Bibelauslegung, angefangen von den Kirchenvätern, geht noch weiter. Jerusalem steht nicht nur für das Volk Israel, sondern ist Synonym für die Kirche geworden. Der Apostel Johannes sieht in der Geheimen Offenbarung gar das Himmelreich im Bild der Stadt Jerusalem. Jerusalem, die heilige Stadt des Alten Bundes, der Ort, wo der Tempel steht, die Stadt der besonderen Gegenwart Gottes, steht auch für die Kirche, die diese Gegenwart Gottes durch die Zeiten hindurch trägt bis sie im "Neuen Jerusalem" des Himmels ihre Vollendung findet.
Dominus flevit. - Der Herr weinte. - Der Herr weinte um Jerusalem. So dürfen wir sagen: Der Herr weinte auch um seine Kirche.
Er weiß und sieht voraus, dass es auch in seiner heiligen Kirche, solange sie auf Erden ihrem Ziel entgegen pilgert, das Unheilige geben wird, dass der Tempel der Kirche - obwohl er heilig ist, weil er von ihm gestiftet ist und er in ihm verhüllt durch die Zeiten schreitet - zu allen Zeiten auch zu einer Räuberhöhle gemacht werden wird. Auch darum: Dominus flevit. - Der Herr weinte.

Wir brauchen ja nur einen Blick in die Kirche unserer Tage zu werfen. Finden wir da nicht wahrhaft genug Gründe, die den Herrn zum Weinen bringen müssen!
Wenn wir die großen Skandale der letzten Jahre betrachten: Wenn Priester ihre Macht missbrauchen und sogar vor den unschuldigen Körpern von Kindern nicht zurückschrecken, dann gilt dabei ganz sicher das "Dominus flevit" des Evangeliums: Der Herr weint darüber.
Wenn der Besuch der hl. Messe zurückgeht oder die von ihm gestifteten Sakramente durch immer neue kreative Formen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt werden; wenn den Gläubigen die Wahrheiten des Glaubens von vielen geweihten Amtsträgern vorenthalten oder gar Irrlehren verbreitet werden; wenn Geld und weltliches Ansehen oft mehr zu zählen scheinen als die Treue zu ihm, unserem Herrn und Heiland; wenn die Zeitungen, so sie überhaupt über kirchliche Themen berichten, nur noch mit Skandalen aufwarten können, ob diese nun konstruiert oder leider echt sind; wenn mehr über Strukturen gestritten wird als über die Wahrheit, die letztlich er selbst in Person ist; und wenn wir diese Liste leider noch beliebig lange fortsetzen könnten, dann gilt sicherlich: "Dominus flevit" - "Der Herr weinte." Und er weint auch heute noch über seine Kirche.

Doch, liebe Brüder und Schwestern, machen wir es uns da nicht vielleicht doch ein wenig zu leicht, wenn wir unsere Kirchenkritik anbringen und aufzählen, was unserer Meinung nach alles falsch läuft?! Natürlich dürfen und sollen wir Missstände aufzeigen. Aber das darf nicht zur Ausrede oder zur Ablenkungsstrategie von uns selbst werden.
Dominus flevit. Weint der Herr nicht vielleicht auch über uns, über dich und mich, über jeden einzelnen?
Die vielen Missstände, die wir in der Kirche, in der Gesellschaft, im Staat oder sonstwo wahrnehmen und nur zu gerne kritisieren, dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gewiss auch in unserem eigenen Leben gilt, eine Tempelreinigung zu betreiben.
Dominus flevit. Der Herr weinte und er weint über seine Kirche - gerade weil es in ihr den Sünder gibt. Und einer davon, das darf ich nie vergessen, bin ich selbst!
Die Mahnung des hl. Paulus aus der Epistel ist auch an mich persönlich gerichtet:
Bin ich nicht selbst manchmal lüstern nach dem Bösen?
Werde ich nicht selbst manchmal zum Götzendiener, wenn ich etwas anderes als Gott an die erste Stelle setze?
Bin ich nicht selbst manchmal sehr schnell im Murren, wenn mir etwas nicht passt?
Mache ich mir manchmal nicht selbst vor, dass ich feststehe im Glauben, obwohl ich doch dem Fall so nahe bin?

Dominus flevit. - Der Herr weinte.
Ja, Herr, du hast Grund genug zu weinen, wenn du mich betrachtest.
Doch dein Weinen ist auch mein Trost: Ich bin dir nicht egal. Es geht dir zu Herzen, dass ich in die Irre gehe.
Und die Worte deines Apostels gelten auch mir: Du bist der getreue Gott, der nicht zulässt, dass ich über meine Kräfte versucht werde und der mir in der Versuchung auch einen guten Ausweg gibt, sodass ich bestehen kann.
Herr, du weinst.
Du weinst über Jerusalem, du weinst über deine Kirche, du weinst über mich armen Sünder!
Gib, dass mir deine Tränen so zu Herzen gehen, wie meine Sünde dir zu Herzen geht.
Gib, dass deine Tränen mich bewegen, selbst über meine Sünden zu weinen.
Gib, dass deine Tränen dazu führen, dass ich mich bessere.
Gib, dass deine Tränen eine neue Umkehr und Hinkehr zu dir in deinem ganzen heiligen Volk und auf der ganzen Welt bewirken.
Gib, dass deine Tränen nicht umsonst fließen, sondern tränke mit ihnen den Acker deiner Kirche, dass das Heilige in ihr immer mehr wachse. Und - um die Worte eines Gebetes aus China zu gebrauchen - fange bei mir damit an.

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