27. Sonntag i. Jkr. - Lj. B (Messe mit Jubelpaaren)

Liebe Brüder und Schwestern!
Liebe Jubelpaare!

Ganzheitlichkeit - so lautet ein modernes Schlagwort. Man soll ganzheitlich denken, sich ganzheitlich ernähren, für die Kinder wird eine ganzheitliche Erziehung angemahnt, usw.

Ganzheitlichkeit - Es geht darum, den ganzen Menschen in den Blick zu nehmen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile - heißt eine philosophische Weisheit. Wenn es also modern und erstrebenswert ist, alles "ganzheitlich" zu betrachten, stellt sich umgekehrt die Frage: Was macht dieses "Ganze" aus? Wann bin ich ein "ganzer" Mensch und wann bin ich nur "halb"?

Die Lesung aus dem Buch Genesis, die am heutigen Sonntag vorgesehen ist, spricht auch vom Menschen und davon, wie er zu seiner "Ganzheit" findet. Am Beginn des zweiten Kapitels ist davon gesprochen worden, wie Gott aus Erde vom Ackerboden (hebräisch: adamah) den Menschen (hebräisch: adam) geformt hat und heute haben wir davon gehört, wie dieser Mensch alle anderen Geschöpfe auf Erden benennt, sozusagen die Erde durchstreift. Der Mensch - ein Geschöpf dieser Erde; doch offensichtlich ist der Mensch damit noch nicht "ganz", noch nicht "vollständig", ist diese Definition des Menschen noch keine "ganzheitliche". "Eine Hilfe, die dem Menschen ebenbürtig war, fand er nicht", so die ernüchternde Feststellung in der biblischen Erzählung.

Liebe Brüder und Schwestern!

Eine ganzheitliche Sicht des Menschen im biblischen Sinn gibt es erst dort, wo es Mann und Frau gibt. So wird ja in der heutigen Lesung nicht einfachhin von der Erschaffung der "Frau" berichtet, sondern das Wort "Mann" kommt genauso erst nach der Erschaffung der "Frau" vor. Mann und Frau, die sich gegenseitig ergänzen, einander "ebenbürtig" und "Hilfe" sind - das erst macht das Menschsein im vollen, ganzheitlichen Sinn aus, so die biblische Botschaft.

Drei Anmerkungen zu dieser bildhaften Erzählung, die wir heute gehört haben:

1. Zunächst das Wort "Hilfe" - "eine Hilfe, die dem Mensch ebenbürtig war". Damit ist mehr gemeint als dass die Frau - in der patriarchalen Umwelt, die die Bibel als gegeben voraussetzt - eine Haushaltshilfe des Mannes sein soll. Nein, "Hilfe" ist ein göttliches Attribut. "Meine Hilfe und mein Retter bist du", heißt es beispielsweise in einem Psalm, einem Gebet an Gott. Wenn nun Mann und Frau einander "Hilfe" sein sollen, dann heißt das nicht mehr und nicht weniger, als dass sie füreinander die Stelle Gottes vertreten, ihn als Schöpfer, der seinem Geschöpf gegenüber steht, darstellen. Erst das macht den Menschen ganzheitlich, dass er ein Gegenüber hat; und das fundamentalste und tiefschichtigste Gegenüber ist hier das Gegenüber von Mann und Frau. So dürfen Sie, liebe Jubelpaare, einander ergänzen, einander Hilfe sein, einander Halt geben und einander tragen.

2. In der Erzählung wird die Frau "aus der Rippe" des Menschen erschaffen. Der hebräische Text ist auch offen für die Übersetzung: "aus der Seite", also nicht nur aus einem kleinen abkömmlichen Stück Knochen; sondern ohne das Gegenüber von Mann und Frau ist der Mensch buchstäblich nur ein "halber Mensch". Die ganzheitliche Sicht des Menschen als Mann und Frau wird in der Erzählung jedenfalls dadurch erreicht, dass ein Stück vom Menschen genommen wird. Das will mehr sagen als eine (heute dürfen wir durchaus sagen: unzutreffende) Anatomie oder Genese des Menschen. Es will vielmehr ausdrücken, dass es echtes ebenbürtiges Gegenüber nur dort gibt, wo sich der Mensch hingibt, wo er etwas von sich freigibt, wo er sich selbst zum Geschenk macht. Liebe Jubelpaare, Sie haben sich am Tag Ihrer Hochzeit gegenseitig einander zum Geschenk gemacht und sind dem treu geblieben. Sich jeden Tag neu dem Partner schenken - das haben Sie durch viele Jahre hindurch gelebt. Und ich bin mir sicher, viele von Ihnen können bestätigen, dass gerade dadurch Neues entsteht; natürlich in besonderer Weise, wenn aus der gegenseitigen Hingabe ein Kind erwächst, aber sicher auch in anderer Hinsicht ist Ihre Ehe eine fruchtbare gewesen. Sich selbst hingeben, einander schenken und dadurch fruchtbar sein - etwas, das zum ganzheitlichen Menschsein dazugehört, und das Sie, liebe Jubelpaare, uns in beispielhafter Weise vorleben.

3. "Frau soll sie genannt werden; denn vom Mann ist sie genommen." - Dieser Satz klingt für uns wahrscheinlich etwas unverständlich. In der hebräischen Originalfassung ist er aber ein leicht verständliches Wortspiel. Frau heißt ischah, Mann heißt ijsch: Ischah soll sie heißen, denn vom ijsch ist sie genommen. Damit wird einerseits wiederum die gegenseitige Verwieseheit, das grundsätzliche und konstitutive Gegenüber von Mann und Frau angesprochen. Ein alter jüdischer Gelehrter hat andererseits aber auch auf eine sprachliche Besonderheit hingewiesen: Die Wörter für Mann und Frau, ijsch und ischah unterscheiden sich nämlich im Hebräischen nur um zwei Buchstaben, nämlich Jod und He. Diese beiden Buchstaben wiederum bilden die Kurzfassung des Gottesnamens JHWH - wie etwa im Jubelruf HalleluJH ("Lobet JH"). Das könnten wir so deuten, dass im rechten Gegenüber von Mann und Frau Gott selbst anwesend ist; dass zu einer ganzheitlichen Sicht des Menschen Gott dazugehört. Ja, das fundamentale Gegenüber von Mann und Frau darf zum Bild für das Gegenüber zu Gott werden. So dürfen Sie, liebe Jubelpaare, einander zum Abbild Gottes werden - genau das ist es ja auch, wenn wir sagen, dass die Ehe im Neuen Bund zur Würde eines Sakramentes erhoben worden ist; dass Sie sich gegenseitig Gott darstellen, an ihn erinnern, an ihn rückbinden; Ihre Liebe und Treue dem Partner gegenüber wird zum Sinnbild der Liebe und Treue Gottes zu unserer Welt - so sind Sie auch ein Zeugnis für diese Liebe und Treue Gottes für Ihre Mitmenschen. Danke für diesen Dienst der Gegenwärtigsetzung Gottes inmitten des alltäglichen Lebens!

Liebe Brüder und Schwestern!
Liebe Jubelpaare!

So kann uns die Erzählung aus dem Buch Genesis dreierlei mit auf den Weg geben für ein "ganzheitliches" Menschsein; besonders den Ehepaaren, aber entsprechend der eigenen Lebensform wohl auch uns allen. Zu solch einem ganzheitlichen Leben gehört

1. das Gegenüber, das Nicht-allein-für-sich-Sein;

2. die Hingabe, das Sich-einander-Schenken;

3. das Verwiesensein auf Gott, das Ihn-gegenwärtig-sein-Lassen mitten in unserem Alltag.

Zu den liturgischen Texten

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